dampfzugDer Morgenzug 

von Margarete Schebesch

 

Wir hatten beschlossen, übers Wochenende aufs Land zu fahren. Ich war am Samstagmorgen pünktlich am Bahnhof. Mein Freund Carlos war schon da und hatte auch schon die Fahrkarten gekauft. Wir hatten noch ungefähr eine Viertelstunde Zeit, aber es waren viele Menschen da, und alle Bänke waren besetzt. So lehnten wir uns beide an eine Mauer, die den Bahnhof von der Straße trennte.

Nach etwa fünf Minuten fühlte ich plötzlich hinter mir etwas Warmes, als ob ich neben einem Ofen stünde. Ich drehte mich um und sah in der Wand ein großes Loch in der Form einer Tunnelöffnung. Dahinter war ein dunkler Wald zu sehen, und auf der anderen Seite der Mauer war es Nacht. Aus der Ferne erklang das Geräusch eines näherkommenden Zuges. Durch den Wald führten Schienen, die genau dort abbrachen, wo das Loch in der Mauer begann.

Ich schaute zu Carlos und wollte ihm sagen, was passiert war. Er stand ganz starr da, hatte die Hände in den Hosentaschen und blickte geradeaus auf die Gleise. Ich ging ein paar Schritte vorwärts, um das Loch aus einiger Entfernung zu betrachten. Von hier aus sah ich Carlos lässig an die Wand gelehnt stehen, während er mir zulächelte. Seine Augen aber waren leer und blicklos wie die einer Statue. Das Loch war nicht zu sehen.

Ich ging wieder zur Mauer zurück. Das Loch war immer noch da, und der Zug war näher gekommen. Ich hörte ihn schon viel deutlicher, und ab und zu konnte ich durch die Bäume ein aufblitzendes Licht erkennen. Carlos stand noch immer unbeweglich da, mitten in der Tunnelöffnung.

Ich schaute mich um. Die anderen Reisenden gingen umher und unterhielten sich. Sie schienen das Loch in der Mauer nicht zu bemerken, denn es war nur zu sehen, wenn man genau davor stand. Und da wir schon beide an der Mauer lehnten, kam niemand mehr und stellte sich zu uns. Klar, dass niemand mehr das Loch bemerkte.

Ich schaute wieder zu Carlos. Er stand da und lächelte, ohne sich zu bewegen, und ich konnte ihn nicht ansprechen. Der Zug war auf einige hundert Meter nähergekommen. Er fuhr sehr schnell und würde jeden Augenblick in den Bahnhof hereinbrechen und alles zerstören. Ich wurde unruhig und begann, mich langsam von dem Loch zu entfernen, als Carlos plötzlich sprach.
"Fürchte dich nicht."

Der Zug donnerte heran, und ich wollte Carlos am Arm packen, um ihn aus dem Weg zu ziehen. Aber es war zu spät. Der Zug kam und fuhr durch Carlos hindurch, dann auch durch mich und alle anderen Menschen, die in seinem Weg standen. Keiner von ihnen merkte etwas davon. Der Zug fuhr über den Bahnsteig, die Gleise und den nächsten Bahnsteig und verschwand in der Ferne. Das Loch in der Mauer war verschwunden, und die Wärme der Wand war nicht mehr zu spüren.
"Er kommt jeden Morgen vorbei", sagte Carlos. "Ich wüsste gerne, wohin er fährt. Aber man kann ihn nicht berühren. Er fährt einfach durch dich hindurch, und das war's. Wirklich schade."