Rache
von Margarete Schebesch
Glenda konnte sich nicht erklären, warum sie diesen Mann vom ersten Augenblick an geliebt hatte. Er hieß Paul und mochte vielleicht Mitte dreißig sein, sah nicht besonders gut aus, und seine braunen Haare waren schon leicht angegraut. Wie viele Männer, die in dieses Alter kommen, hatte er schmale Lippen, und seine Haut war von viel zu häufigen Sonnenbankbesuchen braun und ledrig geworden.
Welche Farbe hatten seine Augen?
Glenda wusste es nicht. Aus Angst, seinem Blick zu begegnen, hatte sie nie in seine Augen geschaut. Sie hätte dann schüchtern den Kopf senken müssen, und er hätte wieder einen seiner kleinen, hämischen Triumphe einstecken können. Diese Triumphe waren es nämlich, die Glenda im Verlauf ihrer Führerscheinlehre nach und nach gegen ihn aufgebracht hatten. In jeder neuen Lektion hatten sie ihr langsam einen weiteren Teil ihres Antriebs und ihrer Hoffnung geraubt. Sie waren es auch, die Glenda nun in ihrem neuen kleinen Wagen auf dem dunklen Parkplatz warten ließen – ganz hinten, wo niemals jemand hinfuhr. Das Licht aus den Fenstern des Unterrichtsraums reichte nicht bis dorthin, und Glenda wusste, dass man sie von drinnen nicht sehen konnte.
Sie fröstelte und schaltete den Motor an. Die warme Luft strömte leise aus den Düsen und umspielte sanft ihre Füße. Für einen Augenblick fühlte sie sich genau wie in dem weißen Wagen mit dem schwarzen Lenkrad und den freundlichen Sitzen, der weiter vorn auf dem Parkplatz stand. Auch dort war die warme Luft immer zu ihren Füßen gekommen, aber dieser Mann – dieser Fahrlehrer, hatte ständig ein Fenster aufgerissen. Glenda hatte immer Angst gehabt, sich zu beschweren. Was, wenn sie Mundgeruch hatte, nach Schweiß oder nach zu viel Deospray roch? Dann hatte sie sich daran erinnert, dass frische Luft bei Müdigkeit am Steuer helfen konnte, denn so stand es im Buch geschrieben. Doch die Angst sich zu blamieren war geblieben.
Wie macht man einem Fahrlehrer klar, dass man in ihn verliebt ist?
Wie konnte man erreichen, nicht ausgelacht zu werden?
Glenda hatte schon oft über diese Fragen gegrübelt, abends im Bett, oder wenn sie mit ihrem Fahrrad in die Stadt gefahren war. Immer wieder hatte sie sich vorgestellt, was er sagen würde, wenn er davon erfuhr. Aber dann hatte sie erkannt, dass sie sich in diese Sache hineinsteigerte und ihre Arbeit vergaß. Es musste eine andere Lösung geben.
Einige Jugendliche gingen über den Parkplatz. Die Wärme, die Glendas Körper gerade noch umhüllt hatte, verschwand, und ihre Hände zitterten leise. Als das Licht im Schulungsraum ausging, brauchten Glendas Augen einige Augenblicke, um sich an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Dann war es endlich so weit, denn im Licht der Sterne sah sie Paul, der über den Platz zu seinem Auto ging.
Er sah kleiner aus als sonst. Glenda sah, wie er den Kopf bewegte und seinen Wagen schon von Weitem betrachtete. Er umkreiste ihn, prüfte die Rückleuchten und suchte mit einer Taschenlampe den Boden vor und hinter den Rädern ab. Dann schaute er sich um und schien den Wagen ganz hinten zu bemerken. Glenda ahnte, dass er seine Augen zusammenkniff, um zu erkennen, ob jemand in dem Wagen saß. Doch er schien beruhigt zu sein, denn er ging zur Fahrerseite, schloss den Wagen auf und stieg ein. Im Licht der Innenleuchte sah Glenda, wie er seinen Sitz zurechtrückte, seinen Spiegel einstellte und sich anschnallte. Dann flammten die Scheinwerfer auf, und der Wagen fuhr rückwärts aus der Parkbox. In einem Zug fuhr Paul zur Ausfahrt, dann schaute er sich kurz um und fuhr los. Glenda hörte, wie er zügig hochschaltete, dann verblasste das Geräusch des Motors. Nun konnte sie fahren.
Einmal, als sie für kurze Zeit allein in Pauls Fahrschulwagen gewesen war, hatte Glenda das Radio aufgedreht, wo ein Sender mit klassischer Musik eingestellt gewesen war. Im ersten Moment hatte sie sich gefreut, denn die Musik verriet einen erlesenen Geschmack. Dann war Paul zurückgekehrt, und Glenda hatte das Radio ausgeschaltet. Aber schon damals war sie so eingeschüchtert gewesen, dass sie ihn nicht gefragt hatte. War mochte er für Musik hören, wenn er ganz allein in seinem weißen Heiligtum saß?
Als sie den Parkplatz verlassen hatte, sah sie seinen Wagen gerade noch um die Ecke biegen. Auf jeden Fall musste sie ihn vor der Ampel erreichen, wenn sie ihm folgen wollte. Sie beschleunigte und fuhr etwas schneller, als es auf der breiten Straße erlaubt war. Die Ampel wechselte auf Rot, und Glenda sah, wie Paul langsam auf dem mittleren Streifen heranfuhr. Sie bremste vorsichtig und war froh, als die Ampel sofort auf Grün sprang. Paul fuhr weiter, erreichte schnell die Höchstgeschwindigkeit und fuhr zügig durch die nächtlichen Straßen. Glenda hatte ein wenig Mühe, ihm zu folgen und schnell genug zu fahren, ohne ihm aufzufallen.
Warum in aller Welt kannst du das so gut?
Was ist es, das du nicht kannst? Was ist dein schwacher Punkt, der dich mir ausliefert?
Glenda dachte an die zehnte Lektion.
Er hatte mit ihr geschimpft, und die ganze Zeit war sein Ton mehr als zynisch gewesen. Glenda hatte sich bemüht, seine Anweisungen zu befolgen und es ihm recht zu machen, doch es war sinnlos gewesen. Nach einer Weile war sie so wütend über sein Verhalten gewesen, dass sie ihn am liebsten erwürgt hätte. Schließlich hatte er sie nur noch angeschaut und nichts mehr gesagt. Dann wieder hatte er auf sie eingeredet und sie nicht zu Wort kommen lassen. Die Tränen hatten schwer in Glendas Kehle gedrängt, ihre Hände waren eisig kalt geworden, und ihre Füße auf den Pedalen hatten gezittert. Und zur Krönung ihres Elends hatte er ihr am Ende auch noch gesagt, sie könne ja aufhören, wenn es ihr zu schwer sei!
Seine Worte waren wie ein stechender Schmerz in Glendas Seele gefahren. Wie Scherben war es in ihr auseinander gestoben, und die Tränen hatten sich beinahe den Weg freigepresst. Glendas Hals hatte sich zugeschnürt, und ihre Lippen hatten gezittert. Sie hatte tief die Luft eingezogen, um Paul mit ihrem Schrei zu zerschmettern, aber sie hatte gewusst, dass er noch heftiger geschimpft hätte, wenn sie es getan hätte.
Was ist aus meinen Träumen geworden, du schrecklicher, überheblicher Mann? Ich habe an dich gedacht, tagelang und nächtelang! Ich habe mich auf jede kurze Stunde mit dir gefreut, obwohl ich wusste, dass ich dir nicht mehr bedeute als die anderen Schüler, denen du gegen viel Geld das Autofahren beibringst. Hast du jemals daran gedacht, wie ich mich fühle, wenn du diese Sachen zu mir sagst? Oh, du Gott im Automobil, was habe ich dir getan, dass du mir die Freude daran nehmen musst?
Glenda war von dieser Lektion nach Hause gegangen, hatte den Kopf in die Hände gestützt und geweint. Vor lauter Wut hatte sie kaum atmen können – und dann hatte sie beschlossen, sich an diesem hässlichen, dummen Menschen zu rächen.
Die zweite Ampel zeigte Grün, und Paul fuhr schnell über die Kreuzung. Glenda konnte noch bei Gelb durchfahren, denn die Straßen waren leer. Sie sah, wie Paul gelegentlich in den Rückspiegel schaute – etwas öfter, als sie selbst es getan hätte. Der Wagen hinter ihr fuhr dicht auf, und Glenda versuchte, das Gesicht des Fahrers zu erkennen. Als sie wieder nach vorn schaute, musste sie etwas Gas geben, denn Paul hatte sich entfernt. Der andere Wagen blieb zurück, und Glenda merkte, wie ihr Körper sich entspannte.
In der Nähe des Stadtzentrums war die Straße hell beleuchtet, und der schnelle Wechsel zwischen Hell und Dunkel strapazierte Glendas Augen. Sie merkte, dass die winzigen Muskeln ermüdeten, und wurde ein wenig nervös, als die nächste Ampel auf Gelb sprang. Doch Paul hielt an, obwohl die Ampel erst gelb war.
Glenda fuhr langsam heran. Am Heck von Pauls Wagen sah sie das weiße, magnetische Schild mit der roten Aufschrift Fahrschule. In seinem Innenspiegel konnte sie sehen, wie Paul sich mit den Händen übers Gesicht fuhr und kopfschüttelnd die Augen schloss. Er war müde.
Sie erinnerte sich an die zwanzigste Lektion.
Es war eine Nachtfahrt gewesen, und Glenda hatte sich zum ersten Mal richtig mit der Dunkelheit konfrontiert gesehen. Eigentlich war es eine angenehme Lektion gewesen, denn sie war schon besser gefahren als am Anfang. Glenda war aber nicht zufrieden mit sich selbst gewesen, und sie hatte Paul deswegen gehasst. Gerade, als sie sich über ihre Fortschritte gefreut hatte, war seine ärgerliche Bemerkung gekommen, sie sei zu zappelig. Glenda hätte nie gedacht, dass andere Menschen ihre Fröhlichkeit als störend empfinden könnten. Für einige Augenblicke hatte sie überlegt, was sie sagen könnte, dann hatte sie Pauls Gesicht neben sich gesehen, das auf alles eine Antwort zu haben schien, und hatte geschwiegen. Stumm in ihrem Inneren hatte sie ihre Ohnmacht verflucht, dann war sie nach Hause gegangen und hatte das Klavierkonzert von Chopin gehört, das ihr ihre Freude immer zurückbrachte.
Ein kurzes, aufdringliches Hupen hinter ihr riss Glenda aus ihren Gedanken. Instinktiv ließ sie die Kupplung kommen, aber es war ein wenig zu schnell, und der Wagen fuhr ruckartig an. Paul war schon ziemlich weit entfernt, und Glenda beschleunigte, um ihn zu erreichen. Er bog nach rechts ab und fuhr in ein dunkles, enges Viertel. Glendas Pupillen passten sich der Dunkelheit an, während sie ihm vorsichtig folgte. Paul fuhr sehr langsam, und Glenda musste einige Male beinahe anhalten, um Abstand zu halten. Sie wusste, dass Paul sie im Innenspiegel beobachtete. Wurde er vielleicht nervös? Die Straße war dunkel, und der Himmel war schwarz und klar. Glenda blickte kurz auf und sah die Sterne glitzern.
In der dreißigsten Lektion hatte Paul sie gelobt. Es war das erste Mal in der langen Zeit gewesen, und Paul hatte sie dabei sehr aufmerksam angeschaut. Glenda hatte versucht, sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen. Doch als sie weitergefahren war, hatte sich dennoch ein kleines Lächeln in ihr Gesicht gewagt.
»Ich weiß, dass du mich hasst«, hatte er gesagt. »Alle tun das. Aber nie hat jemand mich so lange gehasst wie du.«
Vor einer engen Kurve verlor Glenda den weißen Wagen kurz aus den Augen. Als sie um die Ecke gebogen war, blinkte er schon und holte ein wenig aus, um in eine Einfahrt zu fahren. Glenda sah, wie er sich umschaute und dann langsam hineinfuhr. Sie fuhr an der Einfahrt vorbei und parkte im Parkverbot am Straßenrand. Dann stieg sie aus und ging zurück. Als sie zu der Einfahrt kam, sah sie Paul. Er stand da, an den Wagen gelehnt, und wartete auf sie.
Glenda fühlte, wie etwas ihren Kopf zusammenpresste. Sie nahm tiefe Atemzüge und zwang ihre Füße, langsam zu gehen. Paul sagte nichts, aber er lächelte. Plötzlich war da wieder diese seltsame Anziehungskraft, die Glenda in er ersten Lektion gefühlt hatte, und es war schwer, in die Manteltasche zu greifen und das kalte Metall zu berühren, das an ihren Schultern zerrte. Ihre Finger schlossen sich. Sie stand jetzt vor ihm und konnte sein Gesicht genau erkennen.
Sie zog die Waffe aus der Tasche und richtete sie auf Paul.
»Was macht euch Fahrlehrer zu Göttern unter den Menschen?« schnaubte sie.
Einen Moment schien Paul zu zögern, doch dann schaute er Glenda genau in die Augen.
»Wir sind es, die euch lehren, eure Furcht zu überwinden«, antwortete er.
Diesmal erwiderte Glenda seinen Blick und lächelte.
Ich liebe dich nicht, Paul. Es war nur Bewunderung, und jetzt ist es vorbei.
Plötzlich fühlte sie sich wunderbar, lachte leise und steckte die Waffe wieder ein. Sie strich Paul zärtlich über die Wange, dann ließ sie ihn stehen und ging zu ihrem Wagen. Sie wendete in drei Zügen auf der engen Straße und fuhr nach Hause, ohne einen einzigen Fehler zu machen. Dann hörte sie das Klavierkonzert von Chopin, das ihr ihre Freude immer zurückbrachte.
Seine Augen waren blau, aber das war es nicht gewesen, was Glenda versöhnt hatte. Nein, denn in jenem Moment, den Paul vor seiner Antwort gezögert hatte, war Glenda in seinen Augen etwas aufgefallen, das ihn für sie zum Menschen gemacht hatte. Für einen kurzen Augenblick war dort ein kleiner, wundervoller Hauch von Angst gewesen.