Dan
von Margarete Schebesch
Ich riss die Augen auf, so weit ich konnte.
Dann, ohne es zu merken, riss ich auch den Mund auf. Als ich endlich wieder zu mir kam, war das runde, glänzende Ding längst im Himmel verschwunden.
Doch es bestand kein Zweifel. Ich hatte es wirklich gesehen, und ich konnte mich an alles genau erinnern.
Ich schaute auf meine Uhr. Es war fünf Minuten nach vier am Nachmittag.
Das Ding war ganz plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Zuerst hatte mich das Sonnenlicht geblendet, das von der glänzenden Fläche reflektiert worden war. Aber dann hatte ich erkannt, dass es ein fester Körper war, und dass er sich drehte. Ein paar Minuten lang hatte er erstaunlicherweise über Dans Haus geschwebt, dessen Lage ich genau kannte. Danach war er in die Luft aufgestiegen und verschwunden.
Ich erhob mich von dem Gras, auf dem ich gesessen hatte, lief zu meinem Wagen am Straßenrand, sprang hinein und fuhr in die Stadt.
»Das war eine optische Täuschung, Ray, mein Junge«, behauptete Dan, als ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte. »Was sollte eine fliegende Untertasse denn gerade über meinem Haus suchen? Vielleicht hat eine Fensterscheibe dich geblendet.«
»Wie denn? Eine Fensterscheibe in der Luft?« Ich schüttelte schnaubend den Kopf.
»Ein Kran vielleicht?«
Es war eine Erklärung, aber ich ärgerte mich.
»Dan, warum machst du dich über mich lustig? Ich habe dir doch gesagt, dass nichts anderes da war. Nur dieses Raumschiff!«
»Also gut, ich glaube dir«, lenkte Dan ein. »Aber meinst du, dass es noch jemand tun wird?«
Ich überlegte. »Ich weiß nicht. Was, glaubst du, wird der Boss sagen?«
»Bist du wahnsinnig?«, rief Dan. »Ray, mein Junge, der schmeißt dich sofort raus, wenn er diese Geschichte hört!«
Ich ging nach Hause und fühlte mich, als würde mein Herz mit einer Zange zusammengepresst.
Vielleicht war es besser, einen Arzt aufzusuchen.
Damals war ich Reporter beim Daily Wonder. Es war eine Zeitung, von der jedermann dachte, dass sie nur sensationelle und ungemein wichtige Nachrichten druckte. In meiner Freizeit fuhr ich oft zu dem Berg, um einfach ein wenig freie Luft zu atmen und die Aussicht zu genießen. Von dort oben konnte ich fast das ganze Viertel überblicken, in dem Dan und ich wohnten.
Ich kannte Dan seit unserer Kindheit sehr gut. Er war ein ehrlicher Mensch und genoss deshalb mein Vertrauen. Nur damals, als ich ihm die merkwürdige Nachricht brachte, schien er alles unternehmen zu wollen, damit der Rest der Welt nichts von der geheimnisvollen fliegenden Untertasse erfuhr.
Ein ganzes Jahr verging, in dem ich jeden Tag auf den Berg fuhr. Ich war immer genau zur gleichen Zeit dort, aber es gelang mir nie wieder, das Raumschiff zu sehen. Eines Tages kam ich dann auf die Idee, mich genau an die gleiche Stelle zu setzen, an der ich damals gesessen hatte.
Ich fuhr also zum Berg. Ich erinnerte mich genau, dass ich ungefähr zwei Schritte entfernt von einem bestimmten Strauch gesessen hatte, weil es ein sehr heißer Tag gewesen war und ich im Schatten hatte sitzen wollen. Als Zeitungsreporter hatte ich nämlich die Angewohnheit, mir alle Einzelheiten einzuprägen, wenn etwas Ungewöhnliches in meiner Umgebung geschah.
Ich versuchte es an drei Tagen und setzte mich genau so hin wie damals. Am vierten Tag hatte ich endlich Glück. Genau um vier Uhr erschien das Raumschiff, und das reflektierte Sonnenlicht blendete mich. Das Schiff schwebte fünf Minuten lang über Dans Haus und verschwand dann im makellosen Blau des Sommerhimmels. Am folgenden Tag kam ich wieder, und es war wieder da.
Einen Tag später nahm ich meinen Revolver und fuhr kurz vor vier Uhr zu Dan. Er war zu Hause. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals nicht zu Hause angetroffen zu haben, wenn ich ihn besuchte.
Lächelnd öffnete er mir die Tür.
»Ich habe auf dich gewartet.«
»Wieso denn?«, fragte ich überrascht.
»Du warst lange nicht mehr hier, Ray, mein Junge«, zuckte er mit den Schultern, »und du weißt nur zu gut, dass ich nur selten von meinen Geräten loskomme. Heute ist ein guter Tag dafür.«
Dan war Kybernetikspezialist und verbrachte seine Freizeit damit, die merkwürdigsten Rechengeräte zu erfinden. Eine elektronische Uhr irgendwo in seinem Zimmer schlug mit vier wehmütigen Schlägen die volle Stunde. Dan ging zu dem großen Spiegel in seinem Schlafzimmer und begann, sich mit einem traurigen Lächeln darin zu betrachten. Ich folgte ihm.
»Was machst du da?«, fragte ich ihn neugierig.
»Ich betrachte mein Spiegelbild. Siehst du das nicht?«
Seine Stimme klang kalt und beinahe metallisch.
Ich schüttelte den Kopf, denn ich verstand ihn nicht.
»Wieso tust du das?«, hackte ich nach. »Du weißt doch, wie du aussiehst!«
Ich schaute zu seinem Abbild im Spiegel und runzelte die Stirn. Es hatte etwas Eigenartiges, aber ich wusste nicht, was es war. Dann drehte ich mich zu Dan um.
»Warst du schon immer so ein großer Anhänger deiner selbst?«, fragte ich ihn mit spöttischem Ton.
Er lächelte wieder, und in dem Augenblick bemerkte ich aus dem Augenwinkel, dass mich jemand anschaute.
Es war nicht Dan. Es war sein Spiegelbild. Und dann sah ich, dass mein Spiegelbild, welches neben jenem von Dan hätte sein müssen, fehlte.
»Dan, warum …«
Dans Spiegelbild schaute mich an, und aus seinen Augen schossen zwei Blitze, die mich blendeten.
Als meine Augen sich erholt hatten, saß Dan in einem Sessel hinter meinem Spiegelbild und beobachtete mich mit verwunderten Augen.
»Du betrachtest dein Gesicht im Spiegel, als hättest du es heute zum ersten Mal gesehen«, schnaubte er.
Ich wurde zornig.
»Dan, du verheimlichst mir etwas!«, rief ich. »Ich habe genau gesehen, dass ich vorhin nicht da war. Im Spiegel, meine ich. Was ist das?«
»Was solltest du denn in dem Spiegel machen?«, lachte Dan.
»Du machst dich wieder über mich lustig!«, rief ich aufgebracht.
»Natürlich war dein Spiegelbild da«, sagte er. »Ich habe es doch gesehen, mit eigenen Augen. Und jetzt ist es doch auch da, schau mal.«
Er hatte recht, mein Spiegelbild war da.
»Vorhin sah ich es aber nicht«, beharrte ich darauf. »Wenn du mir nicht sagen willst, was hier vor sich geht, werde ich es selbst herausfinden.«
Ich drehte mich um und schaute in den Spiegel. Mein Spiegelbild war dort, aber bevor ich den Spiegel mit der Faust zerschmetterte, bemerkte ich einen metallischen Glanz auf dem Gesicht und den Armen des Spiegelbilds.
Der Spiegel zerbrach in tausend Stücke. Meine Faust war durch die Sperrholzplatte hinter dem Spiegel gedrungen und hart gegen die Wand geschlagen. An einigen Stellen blutete sie.
»Du Schuft, was hast du getan?«, schrie Dan und sprang von seinem Sessel auf. »Der Spiegel war teuer! Wie konntest du nur!«
»Du bist der Schuft von uns beiden!«, schrie ich ihn an.
Zuerst schnürte mir die Angst die Kehle zu, aber dann fühlte ich mächtigen Hass, der mir Kraft gab. Ich musste mit ihm fertig werden!
Dan öffnete eine Schublade und holte einen Revolver hervor.
Aber ich war schneller als er! Ich zielte auf seine Stirn.
»Keine Bewegung, Dan, oder ich erschieße dich!«, drohte ich. »Warum können wir keine Freunde bleiben?«
Dan lachte laut, und richtete seinen Revolver auf mich. Er entsicherte, und ich wusste, dass er im nächsten Augenblick schießen würde.
Er schoss nicht, denn ich kam ihm zuvor. Mir war klar, dass ich am nächsten Tag im Gefängnis sitzen würde, aber ich stand nur reglos da, sah seinen leblosen Körper zwischen den Spiegelscherben auf dem Boden liegen und fühlte keine Spur von Reue.
Da hörte ich ein leises Rauschen über meinem Kopf.
Dan stand auf und lächelte mir zu. Er nahm meine Hand, und ich fühlte etwas Metallisches in ihr. Ich schaute dorthin und sah, dass meine Hand glänzte, genau wie vorher mein Spiegelbild. Auch Dans Gesicht und Arme glänzten, und ein warmes, blaues Licht umhüllte uns.
Er verschwand fast lautlos. Er löste sich einfach auf. Dann war es still.
Am folgenden Morgen erwachte ich auf dem Teppich in meinem Wohnzimmer. Zuerst dachte ich, dass ich geträumt hätte, aber ich hatte schreckliche Kopfschmerzen, und dann kamen die Erinnerungen nach und nach zurück.
Ich lief zum Fenster. Mein Wagen stand dort, wo ich ihn für gewöhnlich abstellte. Als ich die Schublade meines Schreibtisches aufzog, lag mein Revolver darin. Die Patronen waren vollzählig.
Es war zum Verrücktwerden.
Ich lief hinaus und sprang in den Wagen.
Vor Dans Haus stand ein Krankenwagen, und eine Gruppe von Schaulustigen hatte sich versammelt. Ich fragte einen Polizisten, der neben dem Krankenwagen stand, was denn los sei.
»Dan Yoto hat Selbstmord begangen«, antwortete er.
Dann kamen zwei weitere Polizisten heraus. Sie trugen eine Trage, auf die man Dan gelegt und mit einem weißen Tuch bedeckt hatte. Ein Arm hing herunter. Seine Hand hielt einen Revolver, der genau so aussah wie meiner.
»Niemand kann ihm den Revolver aus der Hand nehmen«, hörte ich den Polizisten neben mir sagen. »Sie wollten seine Finger nicht brechen …«
Ich ging und erzählte alles meinem Boss. Er lachte aus vollem Halse und sagte:
»Ray, mein Junge, warum fängst du nicht an, Science-Fiction-Geschichten zu schreiben? Wir könnten dir eine Ecke reservieren …«
In der Zeitung gab es eine winzige Anzeige: »Der Kybernetiker Dan Yoto hat Selbstmord begangen.«
Und das war noch nicht einmal sensationell!
Ich warf die Tür zu und fuhr nach Hause, wo ich anfing, dies alles aufzuschreiben.
Vielleicht glaubt mir ja jemand. Vielleicht hören sie auch irgendwann auf, mich immer nur Ray, mein Junge zu nennen.
Dan, der wahre Dan, ist nicht tot. Er ist dort oben, bei den Sternen.