Das Bild
von Margarete Schebesch
Eines Morgens in den Sommerferien erwachte Simon mit dem seltsamen Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Schlaftrunken schaute er sich in seinem Zimmer um und versuchte herauszufinden, was sich verändert hatte.
An der Wand über seinem Bett hing ein Bild. Es war die Kopie einer Malerei, die eine bizarre Weltraumszene darstellte. Die Künstlerin hatte das Bild mit dem Namen Diana signiert, und Simon hätte sie gerne kennengelernt, denn er mochte das Bild. Eine menschliche Hand war darauf zu sehen, die inmitten der Sterne des Universums einen Planeten hielt. Zumindest glaubte Simon, dass es ein Planet sei. Eine Seite des Planeten wurde von einer Sonne beschienen, die sich an einem Ort außerhalb des Bildes befand. Die andere Seite lag im Schatten, und dieser Schatten war es, der an diesem Morgen anders war als sonst.
Zuerst wusste Simon nicht, warum der Schatten anders aussah. Doch dann, als die Sonnenstrahlen durch das Fenster in sein Zimmer fielen, erkannte er, was es war. Der Schatten auf dem Planeten war nämlich schmaler geworden.
Zufrieden, dass er die Lösung gefunden hatte, legte Simon sich wieder hin und wollte weiterschlafen. Erst war er beruhigt, aber kaum hatte er sich wieder zugedeckt, da kamen ihm Zweifel. Wieso war der Schatten heute schmaler? Oder irrte er sich, und es war etwas anderes, das ihn an diesem Morgen störte? Er richtete sich wieder auf und betrachtete das Bild. Aber seine Beobachtung stimmte: Am Tag zuvor war der Schatten noch breiter gewesen, ganz bestimmt. Heute war er schmaler. Als diese Tatsache feststand, fasste Simon einen Entschluss. Er würde das Bild beobachten.
Am nächsten Morgen schaute Simon gleich, als er erwachte, zu dem Bild hinauf. Obwohl er damit gerechnet hatte, staunte er, als er bemerkte, dass der Schatten auf dem Planeten tatsächlich wieder geschrumpft war. Dafür schien der Planet auf der sonnenbeschienenen Seite heller geworden zu sein.
Am dritten Tag war der Schatten noch schmaler geworden. Nun bedeckte er nur noch ein Viertel der sichtbaren Oberfläche des Planeten. Simon kannte diese Erscheinung vom abnehmenden Mond und beschloss, ein Experiment durchzuführen. Er wollte die Phasen dieses Planeten aufzeichnen. Vielleicht konnte er dadurch herausfinden, wie ein gemalter Planet auf einem Bild Phasen haben konnte.
Als die Ferien zu Ende waren, hatte Simon das Ergebnis: Der Planet drehte sich in weniger als drei Wochen einmal um seine Sonne. Entweder lag er nahe an der Sonne, oder er drehte sich sehr schnell. Oder er tat beides. Aus der Entfernung war nicht zu erkennen, ob der Planet sich auch um seine eigene Achse drehte. Aber das war bei vielen Planeten so.
Simon begann, in der Schule an den Astronomiekursen teilzunehmen. Er lernte viel über Sonnen, Planeten und wie er ihre Bahnen berechnen konnte. Bald war er ein begeisterter Hobby-Astronom. Die Gesetze, die er in den Kursen lernte, trafen überall zu, und er freute sich darüber. Zuerst hatte er nicht daran geglaubt, aber sogar der Planet auf dem Bild gehorchte den Gesetzen.
Langsam kam Simon zu dem Schluss, dass es diesen Planeten auch in der Wirklichkeit geben musste. Man musste ihn nur finden. Er war da draußen, wo die Fernrohre der Erde nicht hinreichten, denn es schien keiner der Planeten zu sein, die um die bekannte Sonne kreisten.
Mit der Zeit lernte Simon auch die Sterne im Hintergrund kennen. Sie waren hell und standen dicht beieinander, wie im Zentrum einer Galaxie. Durch das Bild konnte Simon buchstäblich in die Tiefen des Alls hinein schauen.
Das neue Universum zu betrachten hatte den Vorteil, dass man bei Tag nur die Fenster abzudunkeln brauchte. Das war jedoch auch ein Nachteil, den Simon umso mehr bedauerte, je mehr er über die Sterne lernte. Der Planet im Vordergrund war zwar wunderschön, aber er verdeckte einen großen Teil des Sternen-übersäten Hintergrunds. Deshalb kaufte Simon sich von seinem angesparten Taschengeld ein Fernrohr. Wenn er schon nicht alle Sterne sehen konnte, dann wollte er zumindest von denen, die er sehen konnte, möglichst viele Einzelheiten erkennen.
Er stellte das Fernrohr vor das Bild und begann, die vielen hellen Sterne zu betrachten. Manche von ihnen waren zu hell, und Simon musste sich einen Filter dazukaufen, um sie zu betrachten.
Trotz aufmerksamer Beobachtung konnte Simon keine weiteren Planeten entdecken. Manchmal blieb er nachts stundenlang wach und betrachtete seine Sterne. Er gab ihnen Namen, stellte Tabellen mit ihren Helligkeiten auf und teilte die Sterne in Sternbilder ein. Er liebte diese Arbeit und fühlte sich bald wie ein erfahrener Astronom.
Es kam aber der Tag, da Simon entdeckt wurde. Seine Mutter bemerkte die Ringe unter seinen Augen und fragte ihn, was er für ein Zeug nehme. Am ersten Tag konnte Simon ihr ausweichen, aber sie ließ nicht locker. Eines Nachts überraschte sie ihn dabei, wie er durch das Teleskop das Bild betrachtete. Simon konnte ihr nicht erklären, was er da tat, deshalb zog er sich auf der Stelle aus und ging zu Bett. Seine Mutter setzte sich zu ihm, streichelte sein Haar und fragte ihn noch einmal, was es denn für eine Droge sei. Simon erzählte ihr von dem Bild, von den Sternen und dem Planeten, von dem niemand bisher wusste.
Simon ahnte, dass seine Mutter Angst um ihn hatte. Wahrscheinlich würde sie überlegen, ob sie ihn am nächsten Morgen zu einem Arzt bringen sollte. Doch als Simon am nächsten Morgen aufwachte, schien sie sich die Sache schon anders überlegt zu haben. Vielleicht wollte sie einfach noch eine Weile abwarten, was passierte.
Natürlich passierte nichts, denn Simon hütete sich, nochmals von seiner Mutter ertappt zu werden. Außerdem wollte er nicht, dass jemand von seinem Bild erfuhr, denn dann würde die Presse und die ganze Vertretung der Wissenschaften kommen und ihm womöglich sein kostbares Bild wegnehmen.
Simon betrachtete das Bild jetzt nur noch früh morgens und spät abends, wenn er allein in seinem Zimmer war. Bald schien seine Mutter sich beruhigt zu haben, und Simon konnte mit seiner Arbeit fortfahren. Jeden Tag entdeckte er neue Sterne und sah, wie andere verschwanden -- sehr schnell sogar. Konnte es sein, dass sich dort im Zentrum der Galaxie ein Schwarzes Loch befand? Er musste unbedingt versuchen, zu den Astronomiekursen der Universität zu gehen.
Er wusste nicht, ob es überhaupt gestattet war, so einfach zu erscheinen. Aber es schien niemanden zu kümmern, und am Eingang fragte niemand nach einem Ausweis. Sie schienen sogar froh zu sein, dass er zu den Vorlesungen kam. Simon hörte eifrig zu, machte sich Notizen, las dicke Bücher über schwarze Löcher und beobachtete veränderliche Sterne, doch er kam zu keinem Ergebnis. Er brauchte Hilfe von jemandem, der sich wirklich auskannte mit dem Universum.
Es war nicht schwer, solch eine Person zu finden. Das Problem lag eher darin, ihr die Sache zu erklären, ohne für verrückt gehalten zu werden. Davor hatte Simon Angst und sah deshalb keinen anderen Ausweg, als doch allein mit dem Problem fertig zu werden. Aber es war schwer für ihn, nicht den Kopf zu verlieren und das Geheimnis in die Welt hinauszuschreien. Krampfhaft hielt er den Mund, arbeitete verbissen weiter und versuchte, sich an den anderen Ergebnissen zu freuen. Doch sie brachten ihm keine Freude mehr. Bis er erkannte, was er wirklich an dem Bild hatte.
Durch die verbissene Arbeit war er nämlich nie auf die Idee gekommen, das Bild einmal an eine andere Wand zu hängen. Kaum hatte er das Bild abgehängt, als er auch schon merkte, dass man es gar nicht aufhängen musste, wenn man hinausschauen wollte. Die Fläche gab den Blick frei auf immer neue Konstellationen, Galaxien und manchmal sogar einig Planeten in der Nähe. Nur die Sterne unter der gemalten Hand und dem Planeten blieben immer verborgen.
Der Planet blieb immer im Blickfeld, sah aber immer anders aus. Nur die Sterne im Hintergrund bewegten sich, wenn das Bild bewegt wurde. Simon sah neue Formen, Gasnebel, die er noch nie vorher gesehen hatte. Die Spiralstruktur der Galaxien war hier sogar mit freiem Auge zu erkennen, und es gab viele veränderliche Sterne, die so sehr glitzerten, dass der Blick unwillkürlich davon angezogen wurde.
Erfreut über die Entdeckung holte Simon sein Teleskop. Und jetzt tat er, was er schon längst hätte machen sollen, bisher aber irgendwie immer versäumt hatte. Er richtete das Teleskop auf den Planeten. Er hoffte, dadurch herauszufinden, warum er immer da war und ihn störte.
Vielleicht hatte man es ja so gewollt, dachte er jetzt. Vielleicht sollte er ja erst die Sterne beobachten und sich nur nachher dem Planeten widmen. Wenn es überhaupt ein Planet war. Nachdem Simon sich das Objekt angeschaut hatte, war sich nämlich nicht mehr so sicher. Auf der Oberfläche der Kugel hatte er feine Strukturen erkennen können, die ungewöhnlich symmetrisch angeordnet waren. Es sah aus, als sei der Planet in drei waagerechte Teile eingeteilt: zwei Kugelkappen und eine mittlere Äquatorzone. Die Kugel drehte sich langsam um die eigene Achse, aber die Drehung war nur durch das Fernrohr zu sehen.
Es war kein Planet. Es war ein Raumschiff. Oder es war beides.
Es war beides. Man wollte ihn auf das Raumschiff aufmerksam machen, indem man es ihm immer in den Weg stellte. Simon staunte über die sonderbar menschliche Logik der Wesen, die das Raumschiff gebaut hatten. Es war ein Glück, dass er niemandem von dem Bild erzählt hatte.
Simon war glücklich. Er hatte ein neues Universum entdeckt, das anders war als das bekannte Universum. Es war viel weiter entfernt, als er gedacht hatte. Was bezweckten wohl die Wesen, die ihm dieses Fenster geschenkt hatten? Er hoffte, ein Zeichen von ihnen zu bekommen und war sicher, dass er das Zeichen erkennen würde.
Eines Tages konnte Simon nicht länger warten. Er musste jemandem davon erzählen. Er würde nicht alles sagen, sondern nur Andeutungen machen. Es würde ihm ja ohnehin niemand glauben. Er machte sich also auf den Weg zur Universität, wo er die Geschichte einem Professor erzählen wollte. Irgendeinem.
Doch er kam nicht weit. Er wusste plötzlich, dass er das Zeichen bekommen hatte.
Er kehrte also um und ging nach Hause. Dort fing er an, seinen Koffer zu packen. Er legte seine Lieblingsbücher hinein, obwohl er glaubte, dass er dort, wo er hingehen würde, alles würde haben können, was er wollte.
Als seine Mutter an diesem Abend zu ihm kam und ihm eine gute Nacht wünschte, fühlte Simon sich plötzlich sonderbar erwachsen, groß und allwissend, und er ahnte, dass seine Mutter in dieser Nacht nicht gut schlafen würde. Sie würde ein paar Mal aufstehen, in sein Zimmer kommen und nach ihm sehen, um dann immer wieder beruhigt in ihr Bett zurückkehren.
Am nächsten Morgen lag Simon friedlich in seinem Bett und wartete darauf, dass seine Mutter kam und ihn weckte. Als sie endlich kam und ihn fragte, ob er denn krank sei, schaute Simon sie verwundert an. Es war spät, und sie wollte ihm helfen, damit er pünktlich zur Schule komme, doch sie fand sich in Simons Kleiderschrank nicht zurecht. Sie sagte, er müsse doch alles selber machen. Bis jetzt sei er doch immer allein aufgestanden und habe sich angezogen, und außerdem habe er doch einen Wecker, oder?