noten rose

Jenseits der Liebe

von Margarete Schebesch

 

Hinweis:
Die Inhalte in dieser Geschichte sind nicht für Jugendliche unter 18 Jahren geeignet.

So lag er nun da, entblößt bis aufs Blut – groß, schön und trotz seiner ohnmächtigen Lage voller Stärke. Endlich konnte sie alles sehen, was ihr bisher verborgen geblieben war.

Sie neigte sich zu seinem Gesicht, wischte sorgsam einen roten Tropfen von seiner Wange und entfernte den dünnen Strich, der sich von einem Mundwinkel übers Kinn bis auf die Brust zog. In diesem Augenblick liebte sie ihn wie eine Mutter ihren Sohn, als ob sie vergessen hätte, dass er nicht mehr für sie da war. Sie hatte ihn so gehabt, wie kein Mensch ihn vorher besessen hatte. Es war wundervoll gewesen, und sie hatte vorher nicht gewusst, wozu sie fähig war.

Langsam wurde sie sich der Waffe in ihrer Hand bewusst.
Doch sie ließ sie nicht voller Abscheu fallen, sondern legte sie behutsam in ihre Handtasche zurück. In ihren Kopfhörern begann ein neues Lied, und sie schloss die Augen, um unter dem wilden Trommeln des Schlagzeugers ihren Triumph zu genießen.

Als sie die Augen öffnete, senkte sie den Blick zum Boden, zu dem Mann, den sie geliebt hatte. Er war auf der Stelle tot gewesen, und seltsamerweise waren seine Augen geschlossen. Wie ein schlafender Engel lag er vor ihr, inmitten seiner lagen Haare, die golden über seine Schultern auf den Boden flossen, schwer und kostbar. Sie kniete nieder und öffnete seinen Morgenmantel. Sonnengebräunte Haut erschien darunter, samt dem großen, roten Fleck, den die Wunde geschaffen hatte. Der weiche Stoff hatte das Blut aufgesaugt, und die Wunde hatte schon aufgehört zu bluten. Langsam strich ihre Hand über den glatten Körper, kam bis zur Gürtellinie und hielt erschrocken vor der Erregung inne, die im Tod nicht abgeklungen war. Doch dann lächelte sie über ihre Furcht, und ihre Finger fuhren über die Schenkel, ohne zu zögern.

Es ist immer das gleiche Spiel, dachte sie.
Im Grunde war er nicht anders als andere Männer. Im Grunde.
»What makes a man a man?« sang der Mann in ihren Kopfhörern, den Rest verstand sie nicht mehr. Sie fragte sich bloß noch, warum sie nicht weinte, warum sie nicht diesen leblosen und dennoch warmen Körper umarmte und liebkoste – zum letzten Mal. Dann presste sie die Kopfhörer an ihre Ohren und schloss wieder die Augen, aber diesmal war es, um den schönen, toten Mann zu ihren Füßen nicht sehen zu müssen.

Dann kam die Traurigkeit und übertönte den Lärm in ihrem Kopf. Krampfhaft versuchte sie, aufzuwachen aus diesem Alptraum. Aber als sie die Augen öffnete, war er immer noch da, fremd und blutüberströmt. Das Blut vermischte sich mit der weißen Flüssigkeit auf seinen Beinen, und sie sah es zum ersten Mal im Licht. Voller Angst drehte sie sich um und lief aus dem Zimmer. Die Trommeln in ihren Ohren formten ihre Schritte, und sie lief so lange, bis sie zu Hause war. Hinter der Tür lag ein kleiner, weißer Umschlag mit ihrem Namen, aber sie wagte nicht, ihn zu öffnen.