zimmer spiegelMein Sohn Edward

von Margarete Schebesch

 

»Das kann nicht sein!«
Mrs. Edna McGreegan wurde ohnmächtig und fiel ihrem Mann in die Arme.
Arthur McGreegan, Professor für Gehirnchirurgie und angewandte Psychologie, schluckte und trug seine Frau zur Couch. Dort legte er sie hin und kühlte ihr Gesicht mit Wasser. Nach einigen Minuten kam Mrs. McGreegan zu sich.
»Arthur, ist es wahr?«

Der Professor nickte traurig.
Edna warf sich von einem Weinkrampf geschüttelt wieder auf die Couch.
»Es ist nicht wahr, Arthur! Warum lügst du mich an? Sag mir, dass es nicht wahr ist!«
Der Professor ging hinaus und schloss die Tür. Er ging in sein Arbeitszimmer und schaute auf den Bildschirm.
»Wann ist es passiert?«, fragte er leise.
»Heute Morgen, Sir«, antwortete der junge Mann, der die schreckliche Nachricht überbracht hatte. »Sein Körper war schwer verstümmelt, und das Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Glücklicherweise konnte man seine Identität aus dem Chip ermitteln, den er trug. Die irdischen Überreste wurden bereits vernichtet.«
»Ich verstehe.«
Der Professor betrachtete das Gesicht des Mannes auf dem Bildschirm, dann ließ er den Blick sinken. Sein Sohn war sein einziges Kind gewesen, das er natürlich sehr geliebt hatte. Aber der Beruf des Polizisten war gefährlich, und es passierte manchmal, dass jemand umkam. Und jetzt hatte es seinen Sohn Edward erwischt. Der Professor selbst konnte damit umgehen, aber er wusste, dass Edna daran zugrunde gehen würde.

Er schaute wieder zu dem Gesicht auf dem Bildschirm und runzelte die Stirn, als eine Idee seine Gedanken streifte.
»Wie heißt du, mein Sohn?«, fragte er den jungen Mann.
»Phil Morgan, Sir.«
»Ich danke dir, Phil«, sagte der Professor. »Ich danke dir, dass du die schwierige Pflicht übernommen hast, uns diese Nachricht zu überbringen.«

Von diesem Tag an war Edna McGreegan nicht mehr sie selbst. Arthur McGreegan pflegte sie mit der größten Zuwendung und Aufmerksamkeit, aber es gelang ihm nicht, sie in die Wirklichkeit zurückzuholen.
»Arthur, hast du alles vorbereitet?«, fragte sie immer wieder. »Wenn der Junge kommt, soll er alles vorbereitet finden!« Oder, »Arthur, wenn Edward kommt, sag ihm, er möchte sofort herkommen, in dieses Zimmer. Ich habe eine Überraschung für ihn!«
Solche und ähnliche Worte brachten Arthur McGreegan jeden Tag aus dem Häuschen. Edward war tot, und niemand würde ihn jemals ins Leben zurückbringen können. Edna McGreegan hörte diese Wahrheit jeden Tag aus dem Munde des ihres Mannes, aber ihr Bewusstsein schien die Tatsachen nicht akzeptieren zu können. Täglich wurde sie apathischer, und schließlich sah Arthur seine Vermutung bestätigt: Edna hatte den Verstand verloren. Er prüfte ihre Gehirnströme und kam zu dem Schluss, dass nur ein einziger Mensch sie retten konnte: Edward.

Am nächsten Tag rief er das Center an und bat um die Kontaktdaten von Phil Morgan. Seine Frau habe darum gebeten, den jungen Mann kennenzulernen, welcher der Freund ihres Sohnes gewesen sei. Er wählte, und nach einigen Sekunden erschien Phils Gesicht auf dem Bildschirm.
»Ich grüße dich, Phil«, begann er.
Phil Morgan nickte.
»Guten Tag, Sir. Kann ich Ihnen helfen?«
»Hast du etwas Zeit?«
»Sicher. Ist etwas passiert?«
»Nein, mach dir keine Sorgen. Ich wollte dir nur einige Fragen stellen. Zuerst: Wie hast du Edward kennengelernt?«

Phil war ein einfacher Mensch. Er war Anfang zwanzig, mochte moderne Musik und wohnte in einem Apartment in der Stadt mit Blick auf das Meer. Bei einem Weiterbildungskurs im Center war er Edward begegnet, einem jungen Mann voller Leben und Träume, genau wie er selbst. Sie waren Freunde geworden und hatten viel Zeit miteinander verbracht.

Die beiden Männer waren oft zusammen gesehen worden. Phil meinte, man habe sie oft für Brüder gehalten, obwohl sie ganz verschiedene Persönlichkeiten gehabt hätten. Edward hatte nämlich die großen Partys am Strand geliebt, war ein sportlicher Typ gewesen, hatte Erfolg bei den Mädchen und vor allen Dingen immer Geld gehabt.

Am Morgen vor dem Unfall hatten sie freigehabt und waren beide zu Fuß in der Stadt unterwegs gewesen. Ein Mobil, welches von der Polizei verfolgt worden war, hatte Edward erfasst und ihn ein ganzes Stück mitgeschleift. Der Unfall war tödlich gewesen, und der sensiblere Phil war bei dem schrecklichen Anblick in Ohnmacht gefallen. Er war ins Krankenhaus gebracht worden, wo er schließlich zu sich gekommen war. Nach zwei Stunden war es ihm wieder besser gegangen, und er hatte den Auftrag erhalten, Edwards Eltern die Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu überbringen.

»Vater: Arthur McGreegan, Professor der Gehirnchirurgie und Erfinder
Mutter: Edna McGreegan, Pflegerin im Ruhestand«
Diese Informationen hatte Phil in Edwards persönlichen Dokumenten gefunden. Er hatte sich erinnert, einen Artikel über eine neue Entwicklung des Professors gelesen zu haben. Es war dabei um Gehirnchirurgie mithilfe von Lasern gegangen. Sie konnte nur noch nicht angewendet werden, weil die nötigen Geräte fehlten.

Phil hatte beschlossen, die Nummer des Professors zu verlangen. Nachdem er sie erhalten hatte, rief er ihn an und überbrachte ihm die Nachricht, die Edna McGreegan um den Verstand gebracht hatte.

***

Zwei Monate nach Edwards Unfall litt Phil immer noch unter seinem Verlust. Er hatte gehört, dass der Professor inzwischen nach New-York in die ehemalige Wohnung seines Sohnes gezogen war, aber er hatte sich nicht getraut, ihn zu besuchen. Und dann rief der Professor ihn an.

»Phil, ich möchte dich sehen«, sagte er. »Ich bitte dich, zu mir zu kommen. Ich kenne mich in diesem Verkehr nicht aus.«
Kalte Schauer liefen über Phils Rücken, als er die Bitte des Professors vernahm. Doch er sagte sich, er sei kein Feigling, und es sei seine Pflicht, ihn zu besuchen.

Als er zur Wohnung des Professors kam, fühlte er plötzlich eine bleierne Müdigkeit. Als der Professor die Tür öffnete, fiel Phil ihm in die Arme und murmelte eine Entschuldigung. Der Professor lächelte nur.

***

Arthur legte den jungen Mann auf die Couch und betrachtete ihn fasziniert. Dann setzte er sich an ein Tischchen, auf dem ein Gerät stand, das wie ein Filmprojektor aussah. Er drehte an einigen Knöpfen und ließ sich bequem in den Sessel fallen.
»Bald, Edna ...«, flüsterte er.

***

Phil erwachte und hatte Hunger.
»Mein Gott, was ist geschehen?«, fragte er, als er den Professor in seinem Sessel vor der Couch sah.
»Nichts, dir war nur kurz schwindlig.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Phil beruhigt. »Professor, Sie müssen mich entschuldigen, ich muss gehen. Ich habe einen Bärenhunger ...«
»Aber was soll das denn? Bleib hier und iss, Phil, ich schicke dich nicht fort!«
Phil zögerte, aber schließlich blieb er. Das Essen schmeckte ihm ausgezeichnet, und seine Kräfte kehrten zurück. Ja, er fühlte sich sogar viel stärker als vorher. Er wunderte sich, aber er kam nicht auf die Idee, den Professor zu fragen.

Als er ging, hatte er den Drang, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Er fing wieder an, zu grübeln. Er sagte sich immer wieder, dass das Mobil lieber ihn hätte treffen müssen als Edward.

Zu Hause lief er mit einem seltsamen Impuls der Neugierde ins Bad und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Es schien ihm, dass die Farbe seiner Augen sich verändert hatte. Sie waren nicht mehr blau, sondern dunkel, fast schwarz. Der Mund war nicht mehr an seinem Platz, und das Haar, das vormals rotblonde Haar, war jetzt eher dunkelblond.
»Ich sehe aus wie Edward«, dachte er. Doch seltsamerweise fragte er sich nicht, was vorging.

Der Professor lud ihn noch einige Male ein. Jedes Mal hatte er den leichten Schwindelanfall, wie der Professor es nannte. Und jedes Mal war sein Haar danach dunkler, bis es fast schwarz war.
Phil wunderte sich nicht.

***

Der Professor öffnete die Tür und Phil ging hinaus. Er ging mit großen Schritten und hatte einen leichten, athletischen Gang. Auf der Straße lächelten ihm die Mädchen zu und drehten sich nach ihm um. Phil betrachtete seine starken, muskulösen Arme. Er hatte wieder gut gegessen beim Professor. Sie waren sich sehr nahegekommen.
Hinter sich hörte er die Stimmen seiner Kameraden: »Gott, es ist, als ob Edward auferstanden wäre!«
Phil war fröhlich. Er hatte Edward vergessen. Der Unfall war ein dunkler Punkt in seinem Studentenleben gewesen.

***

Dem Professor war noch ein Tag geblieben. Dies sollte der entscheidende werden.
»Bald, Edna ...«, flüsterte er, als er Phil die Tür öffnete und ihn in seinen Armen auffing.
»Bald, Edna ...«, flüsterte er, als er an den Knöpfen des Apparats auf dem Tischchen drehte.
»Bald?«, fragte er sich, als Phil sich die Augen rieb und ihn lächelnd anschaute.
»Du hier, Vater? Wie bist du ...«
»Reg dich nicht auf, mein Sohn«, beruhigte ihn der Professor. »Ich bin gekommen, um dich zu besuchen. Es ist ziemlich schwer, mit diesem Verkehr zurechtzukommen ...«
»Aber was tue ich hier?«
»Auf dem Weg muss dich ein leichter Schwindel befallen haben. Als ich dir die Tür öffnete, fielst du mir in die Arme.«
»Ja, ich weiß. Ich habe mich noch nicht vollständig erholt. Nach Phils Unfall ...«
Über das Gesicht des Professors huschte ein kaum sichtbares Lächeln.
»Bald, Edna ...«, flüsterte er.

Irgendwo in den Bergen betrachtete der Professor den Bildschirm in seinem Arbeitszimmer. Er sah, wie Phil in sein Mobil stieg und losfuhr. Er drückte einen Knopf, und auf dem Bildschirm erschien das Gesicht seiner Frau Edna.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Meine Liebe, bald wird dein Sohn ankommen. Bereite dich vor ... oder nein, komm lieber erst hierher, damit du ihn siehst. Er ist schon losgefahren ...«
Am nächsten Morgen fanden Mrs. McGreegan und ihr Sohn den Professor tot in seinem Arbeitszimmer. Er hatte Selbstmord begangen. Mrs. Edna McGreegan würde nie erfahren, dass Edward eigentlich ...

 

»Parc-aş sta, parc-aş pleca.
Parc-aş fi altcineva ...«

»Als ob ich bliebe, als ob ich ginge,
Als ob ich jemand anders wäre ...«