jungelLureli

von Margarete Schebesch

 Weit draußen im Weltraum, in einem unbekannten Sonnensystem, gab es einmal einen kleinen Planeten. Er hatte viele große Nachbarplaneten, und in der Nähe gab es einen großen Schwarm von kleinen Felsbrocken. Auf dem Planeten wuchsen weite Wälder und Wiesen, die von hohen Gebirgen und tiefen Flüssen durchzogen waren. Die Menschen, die auf dem Planeten lebten, nannten ihn Waldland.

Die Menschen wohnten in großen Gemeinschaften zusammen und ernährten sich von den Früchten und Blättern der Pflanzen, die auf Waldland wuchsen. Um den Pflanzen Zeit zu lassen, neue Früchte zu bilden, wanderten sie oft von einem Revier ins nächste.

Auf der Wanderschaft wurden sie jedoch von vielen Gefahren bedroht. Neben pflanzenfressenden Tieren gab es auf Waldland nämlich auch welche, die andere Tiere fraßen und sogar Menschen angriffen. Die Menschen nannten diese Tiere Darags, was in ihrer Sprache gefährliches Raubtier bedeutete.

Es gab auch oft schwere Unwetter auf Waldland, denn der Planet war durch die Riesenplaneten in seiner Nachbarschaft großen Gezeitenkräften ausgesetzt. Und immer wieder regneten Felsbrocken aus dem Schwarm im Weltraum auf den Planeten.

In einer Gemeinschaft lebte eine Frau namens Wasabi. Sie hatte ein kleines Mädchen zur Welt gebracht, welches sie Lureli nannte. Das bedeutete in ihrer Sprache Engel mit leuchtenden Haaren.Wasabi liebte das Baby von ganzem Herzen und trug es überall im Arm mit sich herum.

Eines Tages wanderte die Gemeinschaft zu einem Ort, an dem die Bäume wieder neue Früchte gebildet hatten. Sie waren schon sehr weit gewandert, und Wasabi war müde. Ihre Arme schmerzten vom Tragen ihrer kleinen Tochter, die wuchs und jeden Tag schwerer wurde.

Als die Gemeinschaft sich auf einer Wiese mit hohem Gras niederließ, um zu rasten, legte Wasabi sich mit ihrer Tochter Lureli ins Gras. Sie ließ das Baby ihre Milch trinken, und beide schliefen ein.

Plötzlich erwachte Wasabi von einem lauten Knall. Die Menschen schrien durcheinander, und Tiere rannten in wilder Flucht über die Wiese. Da hörte Wasabi einen weiteren Knall und sah mehrere Feuerbälle vom Himmel fallen. Sie sprang auf und wollte Lureli auf den Arm nehmen, doch jemand packte sie und riss sie mit. Wasabi schrie und wehrte sich, aber der Mann, der sie mit sich gezogen hatte, ließ nicht locker, sodass sie keine andere Wahl hatte, als weiterzulaufen.

Sie liefen sehr lange, und Wasabi merkte vor lauter Trauer und Schmerz über den Verlust ihrer Tochter nicht einmal, dass der Feuerregen aufgehört und die Gemeinschaft sich in einer Höhle in Sicherheit gebracht hatte. Sie starrte nur stumm vor sich hin und hatte alle Gefühle verloren.

Da trat der Mann zu ihr, welcher sie gerettet hatte. Es war ein Mann, der Wasabi besonders gern mochte. Er hieß Guril und hatte genau so leuchtende Haare wie Lureli, den er war Lurelis Vater. Aber er hatte Wasabi nur vor dem Feuerregen retten wollen und wusste nicht, dass die Frau eine Tochter hatte.

»Warum bist du so traurig?«, fragte er Wasabi.
Wasabi schaute in nur verständnislos an.
»Habe ich dir weh getan, als ich dich mitnahm, als wir vor dem Regen der brennenden Steine flohen?«, fragte Guril besorgt.
Da kehrten die Erinnerungen zu Wasabi zurück, und sie begann zu weinen.
»Ich habe Lureli zurückgelassen!«, rief sie unter Tränen. »Meine schöne kleine Lureli! Jetzt kommt bestimmt ein Darag und verschleppt sie!«
»Wer ist Lureli?«, fragte Guril erstaunt.
»Sie ist meine Tochter!«, sagte Wasabi und brach weinend zusammen. »Was soll ich jetzt nur machen?«
Guril dachte nach und erkannte, dass Lureli auch seine Tochter sein musste. Tiefe Traurigkeit überkam ihn. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

Plötzlich fühlte er, wie Wasabis Hand sich in seinen Arm krallte.
»Wir müssen sie suchen!«, drängte Wasabi. »Ich werde sie nicht einfach verlassen!«
Guril sah, dass Wasabi großen Mut hatte, und war sehr stolz auf sie.
»Ich werde dir helfen«, sagte er. »Wir gehen zurück zu der Wiese und schauen nach.«

Hand in Hand verließen Wasabi und Guril die Höhle und schlugen den Weg zurück zum letzten Rastplatz der Gemeinschaft ein. Überall waren die Spuren des Feuerregens zu sehen. An manchen Stellen brannte der Wald, und auf den Wiesen gab es schwarze Stellen, wo das Gras verbrannt war. Die Menschen wussten, dass die Feuer bald von einem heftigen Gewitter gelöscht würden, welche immer auf einen Feuerregen folgten.

Als Wasabi und Guril den Rastplatz erreichten, sahen sie einen Darag darauf umherwandern. Voller Angst ließen die beiden sich ins hohe Gras fallen. Sie überlegten gerade, wie sie herausfinden konnten, ob Lureli noch lebte, als Wasabi plötzlich die Augen aufriss und die Ohren spitzte. Sie horchte aufmerksam und deutete dann mit der Hand in die Richtung, wo sie etwas gehört hatte: Es war Lureli, die aus Leibeskräften schrie.

»Ich werde den Darag ablenken«, beschloss Guril. »Ich will so tun, als ob ich verletzt sei, dann wird er mich angreifen wollen. Währenddessen holst du Lureli und läufst zurück zur Höhle.«

Wasabi war einverstanden. Guril richtete sich auf und begann, langsam über die Wiese zu laufen, auf den Darag zu. Immer wieder ließ er sich ins Gras fallen, als ob seine Beine ihn nicht mehr trugen. Der Darag wurde auf ihn aufmerksam und begann, ihn zu beobachten. Nun schlich Wasabi lautlos durch das hohe Gras, immer in die Richtung, aus der sie Lurelis Schreien gehört hatte. Je näher sie kam, desto lauter konnte sie das Schreien hören.

Endlich hatte sie die Stelle erreicht. Lureli lag im Gras und schrie in größter Angst. Ihr kleines Gesicht war schon ganz rot geworden, und ihre Schreie wurden vor Erschöpfung bereits schwächer.

Wasabi nahm sie in ihre Arme und drückte sie an sich. Sofort hörte Lureli auf zu schreien. Wasabi rannte los und versuchte, den Spuren der Flucht zu folgen. Als sie vor Erschöpfung langsamer wurde und ihre Arme von Lurelis Gewicht schmerzten, hörte sie hinter sich ein leises, schnelles Trampeln. Sie schaute sich um und erkannte Guril, der hinter ihr her lief. In der Ferne sah sie den Darag, welcher ihn verfolgte. Gleichzeitig hörte sie ein entferntes Donnern und sah, wie der Himmel hinter ihr sich verdunkelte. Das Unwetter nahte.

»Komm weiter«, rief Guril.
»Ich kann nicht mehr!«, rief Wasabi. »Meine Arme sind schon ganz taub, ich kann Lureli nicht mehr weiter tragen.«
»Ich werde sie tragen«, sagte Guril außer Atem und nahm ihr Lureli ab. So liefen sie beide weiter, bis sie zu der Höhle kamen, in der die Gemeinschaft Schutz gesucht hatte.

Sie liefen schnell hinein und riefen die anderen Menschen um Hilfe. Sogleich kam eine Gruppe herausgelaufen, um den Darag zu vertreiben. Er war sehr hartnäckig und wollte nicht weglaufen, aber als das Unwetter begann und lauter Donner, heftiger Regen und hell gleißende Blitze über die Wiese fegten, suchte er das Weite.

Als sie in Sicherheit waren und verschnaufen konnten, dachte Guril wieder nach. Dann sagte er zu Wasabi:
»Wir müssen uns etwas überlegen, damit wir Lureli immer mitnehmen können. Wenn wir sie auf den Armen tragen, sind wir zu langsam und ermüden zu schnell.«

Als das Gewitter vorbei war, stand er auf und ging hinaus auf die Wiese. Dort suchte er lange Grashalme und weiche Blätter und flocht daraus eine Tasche. Er flocht auch zwei Bänder, mit denen man die Tasche am Rücken befestigen konnte. In die Tasche legte er ein Kissen aus weichem, trockenem Gras, und darauf legte er Lureli. Dann band er sich die Tasche fest an den Rücken und versuchte, damit zu laufen. Es ging gut, und er war sehr schnell damit.

Wasabi freute sich und probierte die Tasche ebenfalls aus. Auch sie konnte Lureli damit viel einfacher tragen. Sie konnte sogar mit der Tasche schlafen, wenn sie sich Lureli auf den Bauch band. So brauchte sie nicht mehr zu befürchten, dass sie Lureli zurücklassen musste.

Die anderen Menschen der Gemeinschaft kamen und betrachteten die Tasche. Sie probierten sie aus und legten ihre eigenen kleinen Kinder hinein. Dann ließen sie sich von Guril zeigen, wie er die Tasche gemacht hatte.

Bald begannen auch andere, die Taschen zu flechten. Manche machten kleine Veränderungen daran und verbesserten sie so immer mehr. Manche fanden besondere Grashalme, welche sich gut flechten ließen. Andere nahmen die Felle von verendeten Tieren, die sie fanden, und machten eine Tasche daraus.  Bald gab es für jedes kleine Kind in der Gemeinschaft eine Tasche.

Die brennenden Steine fielen zwar immer wieder aus heiterem Himmel auf den Planeten, aber die Menschen lernten mit der Zeit, vorauszusehen, wann es so weit war. Sie trugen ihre kleinen Kinder an ihrem Körper und konnten sich auf diese Weise schnell in Sicherheit bringen. Auch der Darag musste sich nach einiger Zeit ein anderes Revier suchen, denn es gelang ihm nie wieder, ein Mitglied der Gemeinschaft zu fangen.

22.08.2008