Der Erdbeerentod
von Margarete Schebesch
Es war herrlich, sich einfach mitten ins Feld zu setzen – hinein in das Rot und Grün, Süß und Heiß und Reif!
Von seinem Platz in dem Pfad zwischen den Erdbeerreihen griff Samuel nach der ersten blutroten, leuchtenden Frucht. Er wusste genau, wie sie schmecken würde, denn der Genuss war jedes Mal da gewesen, immer wieder und alle Jahre.
Aber dieses Mal war die Erdbeere gar nicht so süß, wie er sich das erhofft hatte. Sie schmeckte langweilig und gleichgültig und ein wenig nach Blättern. Samuel probierte die nächste Erdbeere, aber die schmeckte genauso. Erst bei der dritten glaubte er die gewohnte Süße zu spüren, doch der Geschmack konnte ihn nicht befriedigen.
Enttäuscht verzog er das Gesicht und richtete sich auf. Über ihm war der goldgelbe Himmel voller Hitze und Licht, und plötzlich fühlte er sich davon erdrückt und sehr schwach. Sein Kopf wurde schwer, und er fühlte, wie seine Stirn heiß wurde und brannte. Doch es dauerte nur einen Augenblick, dann war der Himmel wieder da, blau und beruhigend, und die Erdbeeren leuchteten weiter in ihrem reifen Rot vor sich hin, ohne sich um die Veränderung zu kümmern.
Samuel wusste nicht, was es war.
Natürlich hätte man alles auf die Erregung zurückführen können. Sie hatte sich gesteigert, sooft Samuel an dem Erdbeerfeld vorbeigegangen war und durch den Zaun sehnsüchtig nach den reifen Früchten gespäht hatte. Nun saß er hier am Ende seiner Sehnsucht und betrachtete die Erdbeeren, eine nach der anderen, und sie waren wie jedes Jahr, rot und lebendig. Vor allen Dingen waren sie lebendig!
Und dann wurde auch Samuel lebendig.
Plötzlich und sehr schnell geschah etwas mit seinem Bewusstsein, und fremde Gedanken strömten durch seinen Geist. Da war die alte Nonne, die Erdbeeren nicht gemocht hatte, und sein guter Freund Ben, der Erdbeeren geliebt hatte. Und da war ein Verbot, das einmal gegen das Erdbeerfeld ausgesprochen worden war, weil die Erdbeeren zu groß geworden waren. Das Feld lag in einem kleinen Tal, das einmal ein Friedhof gewesen war. Die Nonne war gestorben, nachdem sie angefangen hatte, ein längst verwildertes Grab in diesem Tal zu pflegen. Sie hatte den Hügel von den Erdbeerpflanzen befreit und dabei ein paar Erdbeeren gegessen. Sie hatte nicht widerstehen können. Man hatte sie auf dem Erdbeerfeld begraben.
Ben war nicht gestorben. Er war einfach verschwunden. Na ja, vielleicht war er doch tot, aber Samuel glaubte nicht daran. Nicht jetzt nicht mit den roten Flecken in den Augen. Es konnte einfach nicht sein, dafür war die Farbe viel zu rot und zu dunkel.
Es war ein befreiendes Gefühl, sich aufzulösen, sich einfach hinzugeben für ein neues Leben. Wenn es auch vergänglich war, so würde er doch weiterleben in vielen anderen Menschen und viele Jahre lang. Samuel dachte nur an seine Mutter, die Erdbeeren liebte, genau wie er selbst, und er wurde sehr ruhig bei dem Gedanken, dass sie ihn als Erste suchen würde.
Erdbeeren, dieses süße, rote Wort, wie konnte es noch Form annehmen in seinem Kopf, wo es ihn doch nicht mehr gab?